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  • Saliya Kahawatte
    Preisträger

    Lebensspur Saliya Kahawatte

    „Meine Lebensgeschichte appelliert an alle Menschen, stets an sich selbst und die eigenen Träume zu glauben. Wir sollten uns von niemand anderem sagen lassen, was wir können und was nicht.“


    Als Saliya Kahawatte eines Morgens die Augen aufschlägt, ist der Radiowecker auf dem Nachttisch nur noch ein konturloser, verschwommen leuchtender Fleck. Seine anfängliche Verwirrung steigert sich schnell in nackte Panik. Er ist 15 Jahre alt, als sich plötzlich und ohne Vorwarnung die Netzhaut ablöst. Durch die schwere, schubweise verlaufende Augenerkrankung Morbus Behçet verliert der Schüler über Nacht 80 Prozent seines Sehvermögens. Die niederschmetternde Diagnose ändert das Leben des unbekümmerten Jungen auf einen Schlag. Skateboard- und Fahrradfahren ist von heute auf morgen unmöglich. Lesen kann er nur mühsam mit der Lupe, Buchstabe für Buchstabe. In der Schule verliert er den Anschluss. Doch statt sich in sein Schicksal zu ergeben oder an der Situation zu zerbrechen, trifft Saliya Kahawatte als Jugendlicher die wohl wichtigste Entscheidung seines Lebens: Er beginnt zu kämpfen. „Ich war stets getrieben von dem Wunsch nach Selbstbestimmung und einem festen Platz in der Gesellschaft“, sagt er rückblickend. Schon vor 30 Jahren stand für den Sohn einer Deutschen und eines Singhalesen fest: „Ich will nach oben. Nicht an den Rand.“

    Das hat der inzwischen überaus erfolgreiche Hamburger Unternehmer allen Widrigkeiten zum Trotz geschafft. Heute ist der 45-Jährige ein gefragter Business-Coach, Unternehmensberater und Buchautor. Der Weg dahin allerdings ist von Krisen und Tiefschlägen gezeichnet, die Saliya Kahawatte nicht nur einmal fast das Leben gekostet haben. Dass der dynamische, sportliche und selbstbewusste Mann in der Vergangenheit alkohol- und drogenabhängig war, mehrere Suizidversuche und einen monatelangen Aufenthalt in der geschlossenen Psychiatrie hinter sich hat, glaubt ihm auf den ersten Blick wohl niemand. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass er aufgrund eines schweren Hüftschadens, einer vorangegangenen Krebserkrankung und seiner hochgradigen Sehbehinderung zu einhundert Prozent schwerbehindert ist. Einen Blindenstock braucht er nicht, wenn er sich zielstrebig durch sein Viertel bewegt. Auf dem Kiez, wo der Unternehmer seit Jahren in derselben kleinen Wohnung lebt, kennt er nahezu jede Ecke und jeden Winkel. Genau wie die noblen Restaurants und Bars, in denen er nach seiner Ausbildung zum Hotelfachmann fast 15 Jahre lang Karriere gemacht hat – ohne sein Handicap zu offenbaren. Dass er nahezu blind ist, merkten damals weder seine Vorgesetzten, noch die Gäste und Kollegen. Die Lebensgeschichte des 45-Jährigen klingt schier unglaublich. Seine Autobiografie „Mein Blind-Date mit dem Leben“, die er 2009 auf der Frankfurter Buchmesse und bei diversen Medienauftritten präsentiert, berührt und motiviert unzählige Menschen.

    Sie beschreibt intensiv den entbehrungsreichen und schmerzhaften Weg, den Saliya Kahawatte zurücklegen musste, um das Wesentliche zu begreifen: „Ich habe gelernt, nicht gegen meine Behinderung zu arbeiten, sondern mit ihr. Dazu gehört, darüber zu sprechen und zu ihr zu stehen.“ Dieser Erkenntnis geht ein jahrelanger Kampf gegen sich selbst voraus, der den zielstrebigen jungen Mann über Höhen und Tiefen sowie schließlich zum totalen Zusammenbruch führt. Allem voran steht nach dem Abitur der feste Entschluss, einmal in den besten Hotels und Restaurants der Welt zu arbeiten. Der Weg dahin verlangt von dem Realschüler bereits eine Menge Fleiß und eisernen Willen. Berufsberater, Lehrer und Schulbehörde sprechen ihm die Fähigkeit ab, die Hochschulreife zu erlangen und raten zu einer Ausbildung in einer Behindertenwerkstatt. Diese Option kommt für den selbstbestimmten Jungen keine Sekunde lang in Frage. „Ich wusste schon damals: Um unabhängig und erfolgreich zu sein, brauche ich Bildung. Und das bedeutet Abitur statt Behindertenwerkstatt.“ Dass niemand an ihn glaubt, treibt den Jugendlichen mit der außerordentlich hohen Auffassungsgabe zusätzlich an. Er ist fest davon überzeugt, seine Ziele zu verwirklichen. Nach dem Verlust seiner Sehkraft hört er besser und mehr als zuvor. Räume und Entfernungen erfasst er durch Schalleindrücke, Menschen erkennt er an der Stimme und am Klang ihrer Schritte. All diese Fähigkeiten helfen ihm sehr bei der Verfolgung seiner Ziele. Der Schüler paukt die Nächte durch und lernt die Fachbücher auswendig, die Mutter und Schwester ihm vorlesen. Die beiden unterstützen ihn, während der Vater sich von seinem Sohn abwendet und die Familie verlässt. „Er hat mich fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Das war sehr, sehr hart“, sagt Saliya Kahawatte heute.


    Nachdem er seinen Abschluss geschafft hat, tut der Abiturient erstmals etwas, was er im Laufe der Jahre noch oft tun wird: Er verschweigt seine Sehbehinderung. Die Befürchtung, dass sein Traum andernfalls platzen wird, ist zu groß. Dass seine Täuschung nicht auffliegt und er die Ausbildung zum Hotelfachmann in Hannover erfolgreich abschließt, verdankt Saliya Kahawatte unbändigem Willen und enormer Einsatzbereitschaft. In unzähligen Überstunden lernt er, am Klang eines Glases zu erkennen, wie voll er es gießt. Auf einzudeckenden Tischen ertastet er die genaue Position von Serviette, Geschirr und Besteck. Im Weinkeller des Hotels prägt er sich nach Feierabend jedes einzelne Etikett mit der Lupe ein und merkt sich die Position jeder Flasche in den meterlangen Weinregalen. Er weiht nur ganz wenige Kollegen ein, die ihm helfen, wenn er beim Saugen Krümel auf dem Teppich übersehen hat oder die Symmetrie des Gedeckes nicht stimmt. Nach der erfolgreichen Ausbildung kellnert Saliya Kahawatte in einem noblen Fischrestaurant, steht hinter der Bar eines Fünfsternehotels und arbeitet schließlich sogar als Abteilungsleiter. Keiner seiner Arbeitgeber weiß von seiner Behinderung. Die unzähligen Überstunden, mit denen er sein Geheimnis vertuscht, bringen ihn an seine Grenzen, die Angst, entdeckt zu werden, zehrt an ihm. Als der Druck immer größer wird, beschließt der Gastronomie-Profi, sich mit seiner damaligen Partnerin selbstständig zu machen. In Hamburg eröffnet das Paar sein eigenes Bistro. Als der Laden nach kurzer Zeit brummt, wähnt sich der Gastronom mit 24 Jahren am Ziel seiner Träume. Umso niederschmetternder ist der erneute Schicksalsschlag, der Saliya Kahawatte wieder völlig unerwartet trifft.

    Im gesamten Unterleib werden Krebsgeschwüre und Metastasen diagnostiziert, er muss sofort operiert werden. Um sich nach der zerrüttenden Chemotherapie körperlich wieder aufzubauen, trainiert er täglich im Fitnessstudio. Dort lernt er Alex kennen, mit dem ihn schon bald eine tiefe Freundschaft verbindet. Bis heute ist er der engste Vertraute des Hamburger Unternehmers. Als weitere Krankenhausaufenthalte folgen, übernimmt Alex für seinen Freund die Geschäftsführung des Bistros. Die aggressive Chemotherapie hat Saliya Kahawattes Hüftgelenk so stark angegriffen, dass es durch ein künstliches ersetzt werden muss. Die Schmerzen sind enorm. Zeitgleich sinkt sein Sehvermögen von zehn auf fünf Prozent.
    „Plötzlich war ich nicht nur hochgradig seh-, sondern auch mobilitätsbehindert“, erinnert sich der 45-Jährige. „Ich spürte, wie sich die Schlinge um meinen Hals immer fester zuzog.“ Als sein Bistro bankrott geht und die Beziehung zerbricht, schafft er es erneut, sich selbst aufzurichten. Doch was dann kommt, übersteigt die Kräfte des zielstrebigen Kämpfers. Er findet eine neue Stelle als Leiter eines Gourmetrestaurants mit riesigem Weinkeller. Seine Behinderung verschweigt er nach wie vor, verschanzt sich in einem Kartenhaus aus Lügen und Heimlichkeiten. „Ich hatte keine andere Wahl“, sagt Kahawatte heute. „Denn die Realität hielt immer die gleiche Botschaft für mich bereit, die lautete: So, wie du bist, können wir dich hier nicht gebrauchen.“

    Mit Alkohol, Drogen und Medikamenten versucht er, den psychischen Druck und die körperlichen Schmerzen zu betäuben. Nach ein paar Monaten ist Saliya Kahawatte endgültig am Ende. Seine Lebenslüge und die damit verbundenen jahrelangen Entbehrungen und Belastungen führen zum Zusammenbruch. Nach einer Serie von gescheiterten Suizidversuchen landet er 2003 in der geschlossenen Psychiatrie. Diese tiefste aller Krisen wird für den Kämpfer zum Wendepunkt. Er gesteht sich ein, dass er seine Behinderung nicht länger verschweigen kann. Nach der Therapie muss er für kurze Zeit in eine Behinderteneinrichtung, aus der er jedoch schnell wieder entlassen wird. Kahawatte nimmt sich eine Auszeit, reist nach Sri Lanka und entdeckt die buddhistischen Wurzeln seiner Familie wieder für sich. Die Regeln des Ayurveda und tägliche Meditation helfen ihm dabei, einen Schritt zu wagen, der jahrelang undenkbar war: Schonungslos legt er ab jetzt seine Behinderung offen. „Was bisher mein Schicksal war, sollte ab sofort meine Chance sein“, sagt er. Er beginnt ein Studium der internationalen Hotelbetriebswirtschaft. Als die Rentenversicherung ihm finanzielle Hilfe verweigert, nimmt der Hamburger Kontakt zu den Medien auf – mit Erfolg: Mit Hilfe einer staatlichen Finanzspritze schließt Saliya Kahawatte 2006 sein Studium mit der Note 1,9 ab.


    „Damit bin ich weltweit der erste Mensch mit einer hochgradigen Sehbehinderung, der das geschafft hat“, sagt er. Dass seine mehr als 200 Bewerbungen trotzdem erfolglos bleiben, frustriert den Absolventen umso mehr. Was er immer schon befürchtet hat, bewahrheitet sich. Obwohl er in Hartz IV abrutscht, gründet er ohne Startkapital das heutzutage sehr erfolgreiche Unternehmen „minusVisus“ und bietet Coaching und Beratung auf Basis von Stimmenprofilen an. Die ersten drei Jahre glaubt niemand an das Konzept. Erst als 2009 seine Autobiografie erscheint, wendet sich das Blatt. Kaufkräftige Kunden werden auf Saliya Kahawatte aufmerksam, er wird zum gefragten Motivationstrainer und -redner. Heute leitet der Chef von zehn Mitarbeitern in Hamburg-Altona seine mittlerweile zwei Unternehmen. Beide Firmen operieren im In- und Ausland, zu den Kunden zählen börsennotierte Konzerne, Betriebe des Mittelstands und Privatpersonen. Aktuell wird seine Lebensgeschichte verfilmt, die nächstes Jahr in die Kinos kommen wird. 2016 bringt er zudem sein erstes Kochbuch auf den Buchmarkt. Ein Teil aller Erlöse soll in seine frisch gegründete Stiftung fließen. Im Fokus der Saliya-Stiftung steht die verbesserte, dauerhafte Integration von Menschen mit hochgradiger Sehbehinderung im ersten Arbeitsmarkt. „Wir brauchen einen neuen gesellschaftlichen Umgang mit behinderten Menschen, in dem das Handicap nicht als Fehler oder Schwäche gesehen wird“, appelliert der Unternehmer.

    „Vielmehr sollten wir lernen, es als Alleinstellungsmerkmal wahrzunehmen, hinter dem sich spezifische Befähigungen und unkonventionelle, innovative Strategien verbergen können.“ Wenn Saliya Kahawatte über sein Schicksal spricht, schwingt keine Spur von Bitterkeit in seiner Stimme mit. Im Gegenteil: „Das, was ich heute bin, ist das Ergebnis von 30 Jahren harter Arbeit, mein Charakter die Summe der gesammelten Erfahrungen“, sagt der 45-Jährige. „Ich bin dankbar und demütig für alles, was ich erreicht habe.“

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