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"Im Grunde sind Sehende in ihrer Wahrnehmung viel eingeschränkter als Blinde, weil sie sich fast nur auf ihre Augen verlassen. Dabei bieten die anderen Sinne so viele Potenziale, die ungenutzt bleiben."

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Form der Behinderung:

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Motivation und Antrieb:

Dr. Siegfried Saerberg

1961

Wiehl

Soziologe, Musiker, Künstler und Schriftsteller

Blindheit

Musik, Schreiben, Natur, Reise

"Die größte Kraftquelle sind seine Frau und die beiden gemeinsamen Töchter. Bei langen Streifzügen durch die Natur findet er Inspiration für sein künstlerisches Schaffen."

 

Porträtfoto von Dr. Siegfried Saerberg

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zielstrebig läuft Dr. Siegfried Saerberg den schmalen Feldweg entlang, der von seiner Straße hoch über dem oberbergischen Wiehl zu einem kleinen Waldstück führt. Er geht barfuß, um die Grashalme und Steinchen unter seinen Fußsohlen spüren zu können. Auch wenn er die idyllische Natur um ihn herum nicht sehen kann, nimmt er seine Umgebung ganz intensiv wahr. Die Sonnenstrahlen auf der Haut, der Duft blühender Büsche und frisch gemähten Heus, das Summen unzähliger Insekten. Mit Hilfe seines Stocks, der aus einem einfachen Ast besteht, umgeht er sicher Wurzeln und andere Hindernisse. Auf einem Baumstumpf lässt Saerberg sich nieder. Er atmet die würzige Waldluft tief ein und lächelt. Hier in der Natur findet der vielseitige Künstler, Musiker und Schriftsteller seine Inspiration.

Mentale Vorbereitung Als Saerberg nach dem Abitur fürs Jurastudium nach Köln zog, setzte er sich offensiv mit seiner bevorstehenden Erblindung auseinander. Er nahm Kontakt zum örtlichen Blindenverein auf und absolvierte ein Mobilitätstraining, um sich auf die Zeit nach dem endgültigen Sehverlust optimal vorzubereiten. An den Moment, als er sich mit einer Bekannten traf und zum ersten Mal seinen neuen Blindenstock dabeihatte, erinnert er sich noch genau: "Ich glaube, für sie war das ein echter Schock", sagt er rückblickend. Wenn Dr. Siegfried Saerberg über seine Erblindung spricht, schwingt keine Spur von Bitterkeit mit. Durch die frühzeitige mentale Vorbereitung konnte er seine Energie schnell in kreative Projekte lenken. Das Jurastudium hatte er inzwischen an den Nagel gehängt, um zunächst "allem zu entsagen, womit man Geld verdienen könnte". Stattdessen standen Philosophie, Politikwissenschaften und Soziologie auf dem Lehrplan. Viel Beachtung fand die Magisterarbeit "Blinde auf Reisen", für die Saerberg eigene Reisen unternahm und andere blinde Menschen interviewt hatte.

Ungenutzte Potenziale. Die Veröffentlichung sollte die Grundlage für seine Promotion über die Raumorientierung blinder Menschen sein, die unter dem Titel "Geradeaus ist einfach immer geradeaus" veröffentlicht wurde. Darin beschreibt der Soziologe, wie er seine Umwelt akustisch wahrnimmt. "Geräuschebahnen" nennt Saerberg die kognitiven Sinneseindrücke, durch die er beispielsweise das Einströmen einer Menschenmenge in eine Bahnhofshalle wahrnimmt. Die Gleisaufgänge erkennt er an den veränderten Schallreflexionen und dem Luftzug im Gesicht. Auch mit der schwierigen Kommunikation zwischen blinden und sehenden Menschen hat er sich in seiner Dissertation beschäftigt. "Viele sind sehr unbeholfen, wenn sie ein Blinder nach dem Weg fragt, und zeigen oft mit den Händen in eine Richtung", sagt er. "Im Grunde sind Sehende in ihrer Wahrnehmung viel eingeschränkter, weil sie sich fast nur auf ihre Augen verlassen. Dabei bieten die anderen Sinne so viele Potenziale, die ungenutzt bleiben."

Tiefe Krise. Bis er seine Dissertation 2005 fertigstellte, "wanderte" der Soziologe 15 Jahre lang auf vielen Pfaden zwischen Wissenschaft und Kunst hin und her. Richtig entscheiden konnte er sich zwischen den Disziplinen nie. Während die wissenschaftliche Arbeit sich schnell als brotlos herausstellte, konnte Saerberg durch seine kulturellen Projekte seine Familie ernähren. Dass ein für ihn bedeutender Antrag für ein Forschungsprojekt abgelehnt und ihm somit die Tür zur Wissenschaft verschlossen wurde, hat den zweifachen Vater stark mitgenommen. "Diese schmerzliche Zeit hat mich in eine richtige Lebenskrise gestürzt", sagt Dr. Siegfried Saerberg. Die mentalen Strategien, die er damals entwickelte, um sein inneres Gleichgewicht zurückzuerlangen, helfen ihm noch heute in mutlosen Momenten. "Ich achte sehr auf meine seelische Gesundheit und passe auf, dass ich kopfmäßig nicht wieder in eine Sackgasse gerate." Mit Musik, Yoga und langen Spaziergängen in der Natur, aber auch gezielten Ausflügen in die Großstadt steuert er dagegen. Die größte Kraftquelle für den 53-Jährigen sind neben seiner Frau, ebenfalls Musikerin, die beiden gemeinsamen Töchter.

Diskussionen anstoßen. Aber auch aus seinen vielseitigen Projekten, die dem Klangkünstler, Musiker und Schriftsteller sehr am Herzen liegen, schöpft er Energie. Mit dem Verein "Blinde und Kunst" zum Beispiel arbeitet er eng zusammen. Das Projekt "Sexistenz", das als Hörbuch, Ausstellung und Buchpublikation entwickelt wurde, vereint Bilder einer Hamburger Künstlergruppe mit Lernbehinderung und Geschichten vieler Menschen mit den verschiedensten Behinderungen. Sie alle haben sich kreativ und mit entwaffnender Offenheit mit den Themen Erotik und Sexualität beschäftigt. Saerberg hat ihre Bilder in kurzen Texten zusammengefasst und auf CD mit der Musik eines Jazzquartetts unterlegt. "Sexualität bei Behinderten ist noch immer ein großes Tabuthema", kritisiert der Soziologe. über Projekte wie dieses hofft er, dass Menschen ins Gespräch kommen und ihre unterschiedlichen Meinungen offen diskutieren. Für das Soundprojekt "Blinde Flecken" mit "Blinde und Kunst e.V." hat er 17 Blinde und Sehbehinderte an ihren Lieblingsplätzen interviewt und die Gespräche mit den Geräuschen untermalt, die an den jeweiligen Orten zu hören sind.

Den Spiegel vorhalten. Als Schriftsteller hat Saerberg schon vor Jahren begonnen, über Blindheit zu schreiben – nicht aus wissenschaftlicher Sicht, sondern in Form erzählter Geschichten. Die von ihm erschaffene Figur "Herr Sehlos" lädt den Leser ein auf eine Reise voll skurriler Begebenheiten, teils bissig-sarkastisch und immer mit viel Selbstironie gespickt. Indem er sich über die Verhaltensweisen seiner sehenden Mitmenschen lustig macht, hält Saerberg der Gesellschaft auch ein Stück weit den Spiegel vor. "Ich habe das Gefühl, dass die Leistungen blinder Menschen immer mit anderen Maßstäben gemessen werden", sagt er. Er wünscht sich, dass die Gesellschaft Klischees überwindet, offener und lernfähiger wird. Ein wichtiges Anliegen ist dem Soziologen, dass der Arbeitsmarkt für Blinde und Sehbehinderte weiter geöffnet wird. "Vom Staat ist da schon viel getan worden, jetzt müssen sich die Arbeitgeber endlich trauen und Mut zum Risiko zeigen."

Technische Hilfsmittel. Dass sich der Schritt für beide Seiten lohnt, zeigt sein eigener Werdegang. Der Soziologe denkt gern an die Zeit seiner Lehraufträge in Dortmund, Köln, München, Hamburg und Fulda zurück. Von den Studenten und Kollegen sei er immer sehr gut aufgenommen worden. Spezielle Technik ermöglichte es ihm, beispielsweise Hausarbeiten zu korrigieren. Auch Zuhause ist seine Computertastatur mit der sogenannten Brailleschrift ausgestattet. Ein Sprachprogramm liest in rasender Geschwindigkeit Nachrichten vom Mailprogramm und Handy ab. Technisch versiert ist Dr. Siegfried Saerberg auch mit den Programmen, mit denen er seine Klangcollagen zusammenstellt. Die Idee, Geräusche zu sammeln, ist ihm in einem Urlaub am Meer gekommen. Analog zur Urlaubsfotografie sehender Menschen hatte er das Bedürfnis, sinnliche Erinnerungen festzuhalten.

Geben und Nehmen. Nicht nur bei seinen ausgiebigen Streifzügen durch die Natur genießt der "Geräuschesammler" die temporäre Einsamkeit. Auch beruflich sei er meist ein Einzelkämpfer gewesen, der nur vorübergehende künstlerische Allianzen eingegangen ist. "Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man sich als Behinderter immer durchsetzen muss, es ist ein ständiger Kampf. Deshalb verlasse ich mich bei Projekten am liebsten auf mich selbst." Die Fähigkeit, auch mal "Nein" zu sagen, müsse man erst mühsam lernen, sagt der 53-Jährige. Dabei nicht zu vereinsamen, sei ein schmaler Grat. "Viele Behinderte haben zu wenige soziale Netzwerke, sie sind isoliert", hat er beobachtet. Es sei wichtig, offen auf andere Menschen zuzugehen und sich Hilfe zu holen. Das funktioniere gut als gegenseitiges Geben und Nehmen: Sich gegenseitig zu unterstützen, sei für alle Seiten bereichernd.

An sich selbst glauben.Seine wichtigste Botschaft ist, sich nicht entmutigen zu lassen und an sich selbst zu glauben. Wer Dr. Siegfried Saerberg beobachtet, merkt schnell, dass er genau das lebt. Auf dem Rückweg seines Spaziergangs nimmt er für einen Moment Platz auf einer kleinen Bank nahe seines Hauses, breitet die Arme auf der morschen Lehne aus und scheint die fantastische Aussicht über die hügeligen Wiesen seiner Heimat zu genießen. Auch wenn er die atemberaubende Landschaft nicht mit den Augen sehen kann, spürt er doch die erhabene, friedliche Atmosphäre und lauscht konzentriert den unzähligen Geräuschen.

 

Die Lebensspur von Dr. Siegfried Saerberg als PDF finden Sie hier.

 

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