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  • Dzenan Dzafic
    Preisträger

    Lebensspur Dzenan Dzafic

    "Man muss die Realität akzeptieren und sich auf die positiven Seiten im Leben fokussieren. Dabei darf man niemals aufgeben. Denn wenn man sich selbst aufgibt, kann man nicht von anderen erwarten, dass sie es nicht auch tun."


    Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen. Allein schon die leise Erwähnung dieser altehrwürdigen Institution hat Generationen von Studenten den puren Angstschweiß auf die Stirn getrieben. Für einen 13-jährigen Jungen am Niederrhein hingegen strahlte der sperrige Titel einen unvergleichlichen Zauber aus. Als Dzenan Dzafic an seiner Schule für Lernbehinderte einen Zivildienstleistenden voller Ehrfurcht von der Elite-Uni sprechen hörte, an der die Chance, das Studium erfolgreich abzuschließen, minimal sei, war für ihn klar: "Dort und nirgendwo anders werde ich später einmal studieren." An die Reaktionen seines Umfeldes, für den das Luftschloss eines Schülers im Rollstuhl mit vermeintlicher geistiger Behinderung eine echte "Lachnummer" war, kann sich Dzenan Dzafic lebhaft erinnern. An die grenzenlose Verblüffung der damaligen Zweifler, als er sie 14 Jahre später über seine bestandene Bachelorprüfung an ebendieser RWTH informierte, noch viel besser. Wenn der 30-Jährige daran denkt, wird sein entwaffnendes Lachen noch eine Spur breiter. "Ich muss schon zugeben, dass ich diese Momente in vollem Maße genossen habe", sagt der Informatiker.

    Behütete Kindheit

    Dzenan Dzafic sitzt neben seinem Studienassistenten und engen Vertrauten Danni Baumeister in seinem ebenerdigen kleinen Studentenzimmer und erinnert sich an den schier unglaublichen Weg, der zwischen seinem damaligen Traum und der aktuellen Arbeit an seiner Promotion liegt. Mit bemerkenswerter Offenheit spricht er über wegweisende Begegnungen und engagierte Weggefährten, aber auch über schmerzhafte Verluste und Tragödien. Das herzliche Lachen verschwindet dabei nur ganz selten aus seinem Gesicht. Gerne denkt er an seine behütete Kindheit im ehemaligen Jugoslawien zurück, die durch den Ausbruch des Balkankrieges ein jähes Ende fand. Bis zu seinem achten Lebensjahr lebte Dzenan Dzafic mit seinen Eltern, der jüngeren Schwester, Großmutter und Tante in seinem großzügigen Elternhaus. Nach seiner Geburt, bei der es zu einer Schädigung des Zentralnervensystems mit einer Tetraspastik als Folge kam, setzten seine Eltern alles daran, ihren Sohn so gut wie möglich zu fördern. Da es keine Körperbehindertenschule in der Nähe gab, traute seine Familie sich nicht, den Jungen in ein entferntes Internat zu schicken. Zu groß war ihre Sorge, die intensive Physiotherapie könnte vernachlässigt werden. Stattdessen besorgten sie die aktuellen Schulbücher, damit er gemeinsam mit den Nachbarskindern lernen konnte. Eine große Unterstützung war von Anfang an seine jüngere Schwester, die ihm schon früh bei der überwindung alltäglicher Hindernisse half.

    Flucht vor dem Krieg

    Dass nach Ausbruch des Krieges die vertrauten Nachbarn über Nacht zu Feinden wurden, kann Dzenan Dzafic auch heute noch nicht begreifen. Zum ersten Mal hörte er Kategorisierungen wie Katholiken, Moslems und Orthodoxe, die er nicht verstand. Als die Situation lebensbedrohlich wurde, floh die Familie über Montenegro und Mazedonien nach Deutschland. An die Ankunft in dem Asylantenheim in Goch denkt er über 20 Jahre später noch mit Schrecken zurück. Schlimmer als die Enge auf nur zwölf Quadratmetern und die täglichen Schlägereien zwischen rivalisierenden Asylanten war die Angst vor einer drohenden Abschiebung, die wie ein Damoklesschwert über der Familie schwebte. Das verschmitzte Lächeln verschwindet, als der heute 30-Jährige sagt: "Dieser Horror hat meine Eltern bestimmt zehn Lebensjahre gekostet."


    Verhängnisvoller Fehler

    Ein ganzes Jahrzehnt voll bangen Wartens hat es gedauert, bis die Familie endlich ihre unbefristete Aufenthaltsgenehmigung bekam. Dann erst wurde auch der verhängnisvolle Fehler korrigiert, der einer Lehrerin beim Einschulungstest unterlaufen war. Weil der Neunjährige kein Wort Deutsch sprach und dementsprechend auch die leichtesten Fragen nicht beantworten konnte, diagnostizierte die Pädagogin ihm eine geistige Behinderung von 70 Prozent. Während der mathematisch begabte Junge sprachlich beim Unterricht nicht mitkam, war er durch die simple Zahlenlehre unterfordert. "In meiner Heimat hatte ich bereits das kleine Einmaleins gelernt und plötzlich sollte ich Zahlen aus Strohhalmen formen", erinnert er sich. Dzenan Dzafic wurde wegen störenden Verhaltens immer öfter der Klasse verwiesen. Die Beschwerden seiner Eltern, die merkten, was mit ihrem Sohn los war, liefen ins Leere. Im zweiten Schuljahr erkannte eine andere Lehrerin die schnelle Auffassungsgabe ihres neuen Schülers und erteilte ihm Einzelunterricht in Mathematik. Sie sorgte dafür, dass er in eine Förderklasse für geistig fitte Schüler kam. In der siebten Klasse bekam er zwei engagierte Lehrer, die sich damals sicher nicht vorstellen konnten, dass Dzenan Dzafic ihnen Jahre später einen Traum erfüllen würde. "Sie haben uns Realschulstoff gelehrt und sich immer gewünscht, dass einer ihrer Schüler einmal einen Uniabschluss machen würde", sagt der Informatiker. "Als ich sie zu meinem Bachelorkolloquium eingeladen habe, war das auch für die beiden ein großer Tag."

     

    Schmerzlicher Verlust

    Nach dem zehnten Schuljahr zog Dzenan Dzafic mit seinem besten Freund Mimo ins Vinzenz-Heim nach Aachen, um gemeinsam den Realschulabschluss zu machen. Die beiden Jungs waren seit der zweiten Klasse unzertrennlich. "Es war eine ganz besondere Freundschaft", erinnert sich der 30-Jährige heute. "Wir wussten zu jeder Zeit, was der andere gerade denkt, und waren immer füreinander da." Als Mimo zwei Jahre später plötzlich an Nierenversagen starb, brach für seinen besten Freund die Welt zusammen. Dzenan Dzafic besuchte inzwischen ein Wirtschaftsgymnasium in Kleve, um dort sein Abitur zu machen. Der Tod seines engsten Vertrauten stürzte den zielstrebigen Schüler in eine solche Krise, dass er kurz davor war, sich und seinen Traum aufzugeben: "Das Leben machte von einem Tag auf den anderen keinen Sinn mehr für mich." Es dauerte Wochen, bis er für sich selbst eine neue Motivation fand, wieder nach vorne zu schauen: "Ich wollte nicht nur zur Elite gehören, sondern meine Eltern und die Eltern von Mimo finanziell absichern, bevor ich mich auch von der Welt verabschiede."

    Steiniger Weg

    Trotz des schmerzlichen Verlustes und der vielen Steine, die ämter und Behörden ihm in den Weg legten, bestand Dzenan Dzafic sein Abitur. Das gesamte erste Halbjahr der elften Klasse musste er ohne Schreibassistenz bewältigen, obwohl er weder selbstständig Notizen machen, noch seine Unterlagen umblättern konnte. "Rechtlich stand nur körperbehinderten Schülern eine Assistenz zu, aber ich galt auf dem Papier noch immer als lernbehindert", erklärt der Ingenieur und schüttelt den Kopf. Nur mit der Hilfe seiner engagierten Mitschüler konnte er das halbe Jahr bewältigen. Nach dem ersten Zeugnis mit einem Notendurchschnitt von 2,0 sah auch das Schulamt seinen Fehler ein. Der damalige Amtsleiter bewilligte nicht nur einen Assistenten, er entschuldigte sich auch persönlich bei dem Elftklässler und seiner Rektorin.


    Selbstbewusstsein und Kampfgeist

    Nicht nur sie hat an die Fähigkeiten des selbstbewussten Jungen geglaubt. Viele engagierte Menschen haben ihm den Weg zu seinem großen Ziel ermöglicht, sagt Dzenan Dzafic. "Ich bin mir bewusst, dass ich nur aus dem Grund so viel erreicht habe, weil mich viele Menschen gefördert und unterstützt haben. Ihnen werde ich mein Leben lang dankbar sein." Dass er sich trotz aller Hindernisse nie von seinem großen Ziel hat abbringen lassen, liegt jedoch auch an dem untrüglichen Selbstbewusstsein, das seine Familie ihm mit auf den Weg gegeben hat. "Ich wusste früh, was ich kann und was ich nicht kann. Ich konnte meine Arme und Beine vergessen, aber auf meinen Kopf konnte ich mich immer verlassen." Dass er ein Kämpfer ist, hat Dzenan Dzafic schließlich schon bei der Geburt bewiesen: "Ich habe mir gedacht, wenn damals eine überlebenswahrscheinlichkeit von einem Prozent ausgereicht hat, dann werde ich auch die Bestehens-Quote von zehn Prozent für den Uniabschluss packen."

    Zukunftsweisend

    Wie richtig er schon als 13-Jähriger mit dieser Selbsteinschätzung lag, hat der Ingenieur allen bewiesen. Von den 419 Studenten, die mit ihm begonnen haben, legten nur 27 ihren Bachelor in der Regelstudienzeit ab. Dzenan Dzafic gehörte dazu – als erster Student an der RWTH mit einem so starken Handicap. Auch seinen Master schaffte er in der regulären Semesterzahl. Neben seiner Promotion, mit der er Anfang des Jahres begonnen hat, arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an einem selbst angestoßenen Projekt, das in der Fachwelt bereits für Aufsehen gesorgt hat. Im Bachelorstudium bemerkte der Student, dass die Akkuanzeige seines Rollstuhls wenig Aussagekraft über die tatsächliche Reichweite hat. Also entwickelte er einen energiesparenden Routenplaner für Elektrorollstühle, der zudem vor Hürden und Orten warnt, die nicht rollstuhlgerecht sind. Das Projekt eNav war nicht nur Grundlage seiner Bachelorarbeit, sondern soll in Kürze das Leben aller Rollstuhlfahrer verbessern, hofft der Informatiker.

    Mut machen

    Andere Menschen mit Behinderung zu unterstützen, liegt Dzenan Dzafic sehr am Herzen. Ratschläge hat er viele, zum Beispiel, dass es keinen Grund gibt, sich gehen zu lassen. "Auch Behinderte können Wert auf ihr Aussehen legen" sagt er, "denn der erste Eindruck zählt immer". Der 30-Jährige selbst nennt nicht nur eine beachtliche Sammlung Duftwässer sein eigen, sondern auch einen gut sortierten Kleiderschrank. Seinen Schlüssel zum Erfolg hat er schon früh formuliert: "Man muss die Realität akzeptieren und sich auf die positiven Seiten im Leben fokussieren. Dabei darf man niemals aufgeben. Denn wenn man sich selbst aufgibt, kann man nicht von anderen erwarten, dass sie es nicht auch tun."

    Hohe Ziele

    Welche Wünsche er für die Zukunft hat? Dzenan Dzafic muss nicht lange überlegen: "Erst möchte ich den Doktor machen, danach den Professor. Und der Nobelpreis wäre irgendwann auch ganz schön…" Da ist es wieder, dieses ansteckende Lachen. Aus dem Mund eines jungen Mannes, der bisher alle seine Ziele erreicht hat, klingt der Griff nach den Sternen gar nicht mal so verrückt.

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