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  • Klaus D. Herzog
    Preisträger 2019

    Lebensspur Klaus D. Herzog

    „Entscheidend ist, den Blick auf die eigenen Stärken zu lenken. Es geht häufig viel zu sehr darum, was man augenscheinlich nicht kann. Dabei motiviert nichts mehr als Erfolgserlebnisse. Das ist der Schlüssel. Nur, wenn wir die Menschen stark machen, können sie ihren Lebensweg mit Stärke gehen."


    Es ist kaum mehr als ein leichtes Nicken, wenn sich die Blicke treffen. Viel mehr braucht Klaus D. Herzog nicht, um sein Gegenüber einzuschätzen. Wenn er einem anderen Menschen im Rollstuhl begegnet, erkennt er sofort, ob derjenige „angekommen“ ist oder noch mit seinem Schicksal hadert. Wie sich das anfühlt, gegen das Unveränderbare zu kämpfen, weiß der 60‑Jährige nur zu gut. Auch er, der heute einen Großteil seiner Zeit damit verbringt, andere bei ihrem Weg zu mehr Selbstbestimmung zu unterstützen, brauchte Zeit, um sich an das Leben mit Rollstuhl zu gewöhnen. „Plötzlich nicht mehr laufen zu können, da hängt deutlich mehr dran, als nur die Beine nicht mehr bewegen zu können. Die Tragweite einer Querschnittlähmung lässt sich nicht leicht erfassen“, sagt Herzog.

    Glück im Unglück

    Es ist das Jahr 1980, Frühsommer, Klaus D. Herzog hat gerade die erste Abi-Prüfung geschrieben und genießt die Freiheit, ehe es nach dem Fachabitur für zwei Jahre zur Bundeswehr gehen soll. Mitten in dieser unbeschwerten Zeit ist es nur ein kurzer Augenblick, der alles verändert. Wie so oft schwingt sich der damals 21-Jährige auf sein Motorrad. Dass er vergessen hatte, den Seitenständer hochzuklappen, wird ihm erst nach dem Unfall klar. Herzog fliegt 20 Meter weit durch die Luft und bricht sich den ersten Lendenwirbel. Dabei hat er, wie er selbst sagt, Glück im Unglück: Nur einen halben Meter weiter, und er hätte den Sturz vermutlich nicht überlebt.

    „Rollstuhl for ever“

    Nach den Untersuchungen im Krankenhaus ist die Diagnose schnell klar: inkomplette Querschnittlähmung unterhalb des 1. und eine komplette unterhalb des 3. Lendenwirbels. „Rollstuhlfahrer for ever – so sagten es die Ärzte und so sah es definitiv aus“, blickt der gebürtige Oberfranke zurück. Es folgt ein Dreivierteljahr Krankenhausaufenthalt, in dem der gelernte Autoelektriker mit viel Kraft versucht, sich zurück in sein altes Leben zu kämpfen. Wahrhaben will er die Endgültigkeit seiner Diagnose nicht. „Die können mir viel erzählen, dachte ich mir damals“, sagt Klaus D. Herzog heute. Noch aus der „Anstalt“ heraus organisiert er sich ein umgebautes Auto, mit dem er sofort wieder viel herumfährt. Die noch fehlenden Fachabitur-Prüfungen macht er zum regulären Nachprüfungstermin im Krankenhaus. 


      Umzug und Studium

      Nach einem weiteren Dreivierteljahr zieht Herzog mit seiner damaligen Freundin nach Regensburg und fängt ein Studium der Elektrotechnik an. Alles ist plötzlich anders, und vieles muss komplett neu gelernt werden. Eine äußerst spannende, aber auch anstrengende Zeit für den jungen Mann, für den Autonomie extrem wichtig ist. „Ich ging in die Vorlesungen, sehr regelmäßig zwar, aber auch mit einer gewissen Nonchalance, abgesichert durch eine kleine Rente und aus einem gewissen Frust heraus über meine großen Verluste an körperlichen Möglichkeiten und Freiheiten“, erinnert er sich. Diese Einstellung ändert sich erst, als er die ersten fitten und aktiven Rollstuhlsportler kennenlernt.

       

      Der Wendepunkt

      „Die Jungs fuhren heiße Autos, hatten tolle Freundinnen, und waren, wie es mir schien, durch nichts zu erschüttern, das hat mich damals völlig begeistert und motiviert“, erinnert er sich.  Und sie sind nicht nur im Sport aktiv, sondern weit darüber hinaus. Mit Beruf, Familie, Kindern und ehrenamtlichem Engagement „stehen“ diese Niederbayerischen Büffel fest im Leben. Diese neuen Perspektiven sorgen für einen Wendepunkt. Die Zeit im Krankenhaus, in denen Herzog eine echte „Weißkittel-Phobie“ entwickelt hat, verblasst endlich. „Zum ersten Mal seit meinem Unfall ging es nicht immer nur darum, was ich nicht kann, sondern darum, welche Stärken und damit verbundenen Möglichkeiten ich habe“ – eine Erkenntnis, die zu einem wichtigen Schlüssel in seinem weiteren Lebensweg wird.

      Erste Vereinsgründungen

      Nach drei Jahren Rollisport in Straubing gründet Herzog mit einigen Leuten in Regensburg einen eigenen Verein und wird erster Vorsitzender der „Sportgemeinschaft Behinderter und Nichtbehinderter an der UNI Regensburg e.V.“ (SG BeNi). Der Verein zählt schnell 100 Mitglieder, verzeichnet mehrere Sparten wie eine integrative Basketball-Gruppe, ein Schwimmangebot und Klaus D. Herzogs neues Steckenpferd: die Kinder- und Jugendarbeit. Zudem bauen er und seine Mitstreiter eine Beratungsstelle für Menschen mit Behinderung auf und gründen den Verein „Vorsicht Behinderung!“. Beide Vereine bringen das Projekt Phönix auf den Weg. Phönix ist heute ein ambulanter Pflegedienst mit rund 120 Mitarbeitern, bietet nach wie vor ein umfangreiches Beratungsangebot und ist ein wesentlicher Bestandteil im Rahmen der offenen Behindertenarbeit in Regensburg. Zu Beginn des Studiums lernt Herzog seinen späteren besten Freund Herbert kennen, der ebenfalls im Rollstuhl sitzt. Die beiden werden ein Dream Team in Sachen neue sportliche Aktivitäten: „Wir probierten alles aus, bauten uns erste Mono-Skis und Handbikes und paddelten auf der Donau herum. Ich war bei einem internationalen Autorennen für körperbehinderte Fahrer in der Tschechoslowakei und bei einem Entwicklungs-Projekt zum Aufbau von Behindertensport mit Auto-Rally in Moskau, damals noch Sowjetunion“, erinnert sich der heute 60-Jährige.


      Große Umbrüche

      Sechs Jahre nach der Trennung finden Lul Autenrieb und Omar 2005 erneut zusammen und leben seit 14 Jahren mit ihren Kindern in Bonn Neu-Tannenbusch. Zu dieser Zeit weitet die gut vernetzte Ehrenamtlerin ihr Engagement auf politischer Ebene aus. Sie wird Botschafterin für die Deutsch-Somalische Gesellschaft in Tannenbusch und stößt 2008 mit Unterstützung der Organisation „Terre des Femmes“ die Anerkennung von Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen als Asylgrund an. In Berlin sprechen Lul Autenrieb und ihre Mitstreiterinnen bei der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen vor, die dieses Anliegen unterstützen. Mittlerweile ist es als geltendes Recht umgesetzt worden – für die 59-Jährige eine echte Herzensangelegenheit: „Es ist gut zu sehen, dass man etwas bewirken kann, indem man sich einsetzt und auch tabuisierte Themen laut benennt. In diesem Falle können jetzt viele Mädchen und Frauen geschützt werden“. Obwohl sie seit mehr als vier Jahrzehnten in Deutschland lebt, ist die gebürtige Somalierin in Gedanken oft bei den Opfern des bestialischen Brauchs: „In dem Land, in dem ich geboren werde, leiden so viele Frauen und Mädchen. Ich möchte meine Stimme erheben und der Welt mitteilen, wie schrecklich das ist.“ Regelmäßig wird die Verfechterin von Menschenrechten zu Veranstaltungen und Vorträgen geladen. Auch in der Flüchtlingshilfe ist Lul Autenrieb weiterhin aktiv. Nach einer entsprechenden Schulung bei der Stadt Bonn ist sie seit 2009 als ehrenamtliche Integrationslotsin im Einsatz und unterstützt seither Menschen mit Migrationshintergrund bei verschiedensten Schwierigkeiten und Herausforderungen. Im gleichen Themenfeld gibt sie über das katholische Bildungswerk den Integrationskurs „Ankommen“, in dem sie neu angekommenen Menschen, aber auch Menschen, die sich noch nicht gut auskennen, das Leben und das Miteinander in Deutschland nahebringt.

      Authentische Vorbilder

      Durch die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen im Rollstuhl merkt Herzog schnell, wie wichtig sein bester Freund Herbert und er als authentische Ansprechpartner für die jungen Menschen sind. Nach jeder Sportstunde werden die beiden Trainer mit Fragen überschüttet: „Wie, du sitzt echt auch im Rollstuhl?“, „Wie kommst Du allein ins Bett, aufs Klo und vor allem ins Auto?“. Fragen über Fragen, von den beiden spielend leicht zu beantworten und vorzuleben – für die Kinder und ihre Eltern lebenswichtige Hilfestellungen. „Das besondere war, dass wir, eine neue Generation von Rollstuhlfahrern, unser Schicksal selbst in die Hand nahmen“, sagt Herzog rückblickend. „Wir wollten nicht, dass uns jemand von oben herab sagt, wie wir zu leben haben. Nicht das Wieder-Laufen-können war unser oberstes Ziel, sondern aktiv zu sein und sich damit einen großen Aktionsradius zu schaffen. So wurden wir zu authentischen Vorbildern für Andere.“

      Vielseitig engagiert

      „Experten in eigener Sache“ nennt Klaus D. Herzog die Zauberformel, dank derer er und seine Mitstreiter auf überregionaler Ebene viel bewegen. Sie entwickeln Sportprogramme und Beratungsangebote. Zusammen mit Herzogs Freundin Ute Frantzen bringen sie die DRS RolliKids auf den Weg und schaffen Strukturen für heute über 100 Vereine in Deutschland und weit darüber hinaus. Unter dem Motto „Wir sind wesentlich mehr als nur ein Sportverband“ zeigen sie Wege und Perspektiven auf und leben diese vor – getreu dem Leitbild „mobil – mittels eines gut angepassten Rollstuhles, aktiv – durch Rollstuhlsport, selbstbestimmt – im Leben, kurz: Mobiaki.“ Dieses Motto zieht immer größere Kreise. Ab 1990 gestaltet ein Team um Ute Frantzen und Klaus D. Herzog Rollstuhl-Trainingskurse und Übungsleiter-Fortbildungen in der Schweiz. 1991 ist Herzog aktiver Teilnehmer an einer Handicap-Skistudienreise in die USA, besucht internationale Kongresse, trägt über seine Kontakte zum Aufbau von Mobilitätstrainingskursen in Österreich bei und organisiert Jugendaustausch-Projekte für Kinder und Jugendliche in Ungarn und Tschechien. Herzog engagiert sich in der Arbeitsgemeinschaft Spina Bifida (ASbH), wird Übungsleiter für die Deutsche Gesellschaft für Osteogenesis imperfecta (Glasknochen), den Bundesverband Körper- und Mehrfachbehinderter, die MS-Gesellschaft und für Polio-Erkrankte. Er berät die Fördergemeinschaft der Paraplegiker (FgQ), ist ehrenwertes Mitglied in der Deutschsprachigen Medizinischen Gesellschaft für Paraplegiologie e.V. (DMGP) und hält Vorträge für die Deutsche Vereinigung für Rehabilitation (DVfR). 2012 werden die DRS RolliKids von der DVfR mit der Kurt-Alphons-Jochheim-Medaille für ihre Arbeit ausgezeichnet. Zudem organisiert Herzog internationale Mobilitätscamps für Kindern mit spinaler Muskelatrophie in Italien und Sport-aktiv-Wochen für Rollstuhlfahrer auf Teneriffa. Zudem sucht und pflegt er den Kontakt zu diversen Förderern, die die Rollikids unterstützen und verwaltet den Fundus von über 50 Rollstühlen, die für inklusive Schulprojekte eingesetzt und an bedürftige Kinder vermittelt werden. So waren es in den letzten 30 Jahren mehr als 1000 Familien, denen Klaus D. Herzog Hilfe zur Selbsthilfe geben konnte.

      Bewegtes Leben

      Auch privat führt Klaus D. Herzog ein bewegtes Leben. 1993 heiraten er und Ute Frantzen, seither pendelt er zwischen Regensburg und dem Rheinland. Gemeinsam mit vielen Helfern sanieren sie ein altes Fachwerkhäuschen und schaffen sich ein Refugium, das zum Vereins-Basislager und einer echten Villa Kunterbunt für Alle wird. Ein Jahr lang lebt ein Pflegekind bei den Herzogs und im Jahr 2000 kommt Tochter Samira zur Welt. „Ich führe ein reiches Leben“, sagt der 60-Jährige, der sich auch gesellschaftspolitisch für Inklusion engagiert. „Wenn uns das gelingt, dann haben wir eine andere Gesellschaft. Dann ist jeder so, wie er ist, richtig und wichtig für die Gemeinschaft. Nur so kann Inklusion funktionieren.“ Das beginnt für ihn besonders bei den Kindern: „Entscheidend ist, den Blick auf die eigenen Stärken zu lenken. Häufig geht es viel zu sehr darum, was man nicht kann. Dabei motiviert nichts mehr als Erfolgserlebnisse. Das ist der Schlüssel. Nur, wenn wir die Menschen stark machen, können sie ihren Lebensweg mit Stärke gehen.“

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