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  • Lul Autenrieb
    Preisträgerin 2019

    Lebensspur Lul Autenrieb

    "Ich wünsche mir, dass auch die Schwächsten gehört werden und die Chance bekommen, sich zu wehren. Bis dahin werde ich weiterhin meine Möglichkeiten nutzen und als Sprachrohr für all diejenigen, die nicht sprechen können, besonders für die Rechte von Frauen und Kindern kämpfen.“


    Traumatisiert, angsterfüllt, allein in einem fremden Land. Dass Lul Autenrieb die schockierende Diagnose zunächst nicht erfassen kann, liegt nicht nur an der unbekannten Sprache. Als die Ärzte in der Bonner Uniklinik der jungen Somalierin auf Englisch erklären, dass sie den Rest ihres Lebens im Rollstuhl verbringen muss, wird die damals 17-Jährige völlig aus der Bahn geworfen. „Ein Jahr lang dauerte dieser Zustand, in dem ich lieber gestorben wäre, als zu leben“, sagt Lul Autenrieb heute. Die Emotionen, die sie damals überwältigen, sind ihr auch Jahrzehnte später noch sehr präsent. Die Wut und der Hass dem Mann gegenüber, der ihr das Unbeschreibliche angetan hat, werden überstrahlt von dem Gefühl tiefer Dankbarkeit, überlebt zu haben. Und von dem Stolz auf sich selbst, bis heute für sich und die Rechte unzähliger anderer Frauen und Mädchen zu kämpfen – und viel zu bewirken.

    Zwang und Gewalt

    Mitte der 1970er Jahre in Somalia hat das willensstarke junge Mädchen keine Chance, sich zu verteidigen. Zum ersten Mal wird Lul Autenrieb im Alter von sechs Jahren zum Opfer brutaler Gewalt. Ihr Vater folgt der qualvollen Tradition seiner Heimat und lässt die Genitalien seiner Tochter verstümmeln. Mit Abscheu erinnert sich die heute 59-Jährige an das Fest, das zu Ehren des barbarischen Akts gefeiert wurde. Schätzungsweise 98 Prozent aller Mädchen werden in dem afrikanischen Staat beschnitten, bis heute sterben viele an den Folgen des Eingriffs. Zehn Jahre später kämpft Lul Autenrieb erneut um ihr Leben. Wieder entscheidet der Vater gegen den Willen seiner Tochter, diesmal zwingt er sie zur Hochzeit mit einem älteren Mann. „Die Ehe war von Gewalt und Missbrauch geprägt“, blickt sie zurück. Mehrfach flieht das Mädchen zurück zu seiner Familie. Nach der letzten Flucht dringt ihr Ehemann durch das Fenster in Lul Autenriebs Elternhaus ein und versucht, seine Frau mit 28 Messerstichen zu töten. Einer davon durchtrennt ihr Rückenmark. Als die 17-Jährige Wochen später aus dem Koma erwacht, erfährt sie, dass sie gelähmt ist.

    Unerwartete Hilfe

    Dass sie den Mordanschlag überlebt hat, verdankt die junge Frau ihrem Onkel, zur damaligen Zeit Verteidigungsminister Somalias. Er nutzt seine internationalen Kontakte, vor allem zu Manfred Opländer, dem damaligen Pressesprecher der CDU unter Helmut Kohl, um seine Nichte zur besseren medizinischen Betreuung nach Deutschland bringen zu lassen. „Manfred Opländer besuchte mich noch am selben Tag und hat seitdem meinen Lebensweg begleitet“, sagt Lul Autenrieb. Er wird eine Art Mentor und ist auch derjenige, der verhindert, dass die damals 17‑Jährige während der laufenden Behandlung vom Auswärtigen Amt zurück nach Somalia geschickt wird. Opländer ist einer der Menschen, der ihr Kraft gibt, sich in dem fremden Land zurechtzufinden. Schnell entwickeln sich Kontakte zu anderen Patienten. Zwei der Schwestern kümmern sich besonders liebevoll um die junge Somalierin, besorgen ihr Kleidung und nehmen sie gelegentlich übers Wochenende in ihren Familien auf. „Ich war zu der Zeit ja fast noch ein Kind, stand nach wie vor unter Schock und Deutschland war für mich eine neue, unbekannte Welt“, blickt die 59-Jährige zurück. 

     


    Ein freies Leben

    Die deutsche Sprache zu lernen, fällt Lul Autenrieb leicht. Viel schwieriger ist es für sie, zu begreifen, dass sie von nun an in Freiheit lebt und Rechte hat. Der Mann, der sie bei diesem Prozess unterstützt, wird zur Schlüsselfigur in ihrem neuen Leben. Die junge Frau lernt ihren späteren zweiten Mann Oskar Autenrieb in der Reha kennen, die sich an den Krankenhausaufenthalt anschließt. Er besucht einen anderen Patienten, die beiden kommen ins Gespräch. „Erst hat sich eine tiefe Freundschaft entwickelt, die später zu Liebe wurde“, erinnert sich Lul Autenrieb. Bevor die beiden 1984 heiraten können, muss die damals 24-Jährige erneut nach Somalia reisen, um die nötigen Unterlagen für die Scheidung von ihrem ersten Ehemann zu beschaffen. Der Gewalttäter, mittlerweile wieder auf freiem Fuß, bedroht seine Frau erneut. Wieder hilft Lul Autenriebs Onkel ihr, außer Landes zu reisen. 

    Erneuter Schicksalsschlag

    Nach der Hochzeit zieht das Paar in die Kruppsiedlung in Duisburg-Rheinhausen. Lul Autenrieb blüht in der Siedlungsgemeinschaft und der dortigen Kirchengemeinde auf und engagiert sich im Frauencafé – der Beginn eines jahrzehntelangen sozialen Engagements auf etlichen Ebenen. „Ich habe damals eine Gemeinschaft und ein Miteinander kennengelernt, das in dieser Form neu für mich war und aus dem ich viel Kraft schöpfen konnte“, sagt sie heute. Lul Autenrieb ist zum ersten Mal seit langer Zeit wieder glücklich. „Mein Mann Oskar hat mich sehr geprägt. Durch ihn habe ich erstmals einen respektvollen Umgang und meinen ebenbürtigen Wert als Frau in der Partnerschaft und in der Gesellschaft erfahren.“ Wie fragil dieses Glück ist, wird deutlich, als Oskar an Lungenkrebs erkrankt. Er liegt bereits dauerhaft im Krankenhaus, als die beiden erfahren, dass sie ein Kind erwarten. Doch wenige Monate vor der Geburt seiner Tochter verliert er 1988 den Kampf gegen den Krebs.

    Im Einsatz für Andere

    Lul Autenrieb findet Trost in ihrem Glauben und ihrem ehrenamtlichen Engagement. Sie ist inzwischen in der Flüchtlingshilfe aktiv und lernt darüber ihren dritten Ehemann Omar kennen. Die beiden bekommen zwei Söhne und betreiben einen Tante-Emma-Laden in Duisburg, dessen Räumlichkeiten zur Begegnungsstätte für geflüchtete Menschen wird. „Die Arbeit gab mir Kraft, es tat mir gut, etwas zurückgeben zu können.“ Doch privat macht Lul Autenrieb eine schwere Zeit durch. Die Beziehung zu Omar scheitert, sie sucht Abstand und wagt gemeinsam mit ihren drei Kindern einen Neuanfang in Bonn. Die aufgeschlossene, kontaktfreudige Frau lernt schnell neue Mitstreiter kennen, mit denen sie kostenlos Nachhilfe und Hausaufgabenhilfe für geflüchtete Kinder und Kinder mit Migrationshintergrund gibt. Dass sie deutsch, somalisch, arabisch, italienisch und englisch spricht, kommt ihr bei der Arbeit zugute.


    Engagement auf allen Ebenen

    Sechs Jahre nach der Trennung finden Lul Autenrieb und Omar 2005 erneut zusammen und leben seit 14 Jahren mit ihren Kindern in Bonn Neu-Tannenbusch. Zu dieser Zeit weitet die gut vernetzte Ehrenamtlerin ihr Engagement auf politischer Ebene aus. Sie wird Botschafterin für die Deutsch-Somalische Gesellschaft in Tannenbusch und stößt 2008 mit Unterstützung der Organisation „Terre des Femmes“ die Anerkennung von Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen als Asylgrund an. In Berlin sprechen Lul Autenrieb und ihre Mitstreiterinnen bei der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen vor, die dieses Anliegen unterstützen. Mittlerweile ist es als geltendes Recht umgesetzt worden – für die 59-Jährige eine echte Herzensangelegenheit: „Es ist gut zu sehen, dass man etwas bewirken kann, indem man sich einsetzt und auch tabuisierte Themen laut benennt. In diesem Falle können jetzt viele Mädchen und Frauen geschützt werden“. Obwohl sie seit mehr als vier Jahrzehnten in Deutschland lebt, ist die gebürtige Somalierin in Gedanken oft bei den Opfern des bestialischen Brauchs: „In dem Land, in dem ich geboren werde, leiden so viele Frauen und Mädchen. Ich möchte meine Stimme erheben und der Welt mitteilen, wie schrecklich das ist.“ Regelmäßig wird die Verfechterin von Menschenrechten zu Veranstaltungen und Vorträgen geladen. Auch in der Flüchtlingshilfe ist Lul Autenrieb weiterhin aktiv. Nach einer entsprechenden Schulung bei der Stadt Bonn ist sie seit 2009 als ehrenamtliche Integrationslotsin im Einsatz und unterstützt seither Menschen mit Migrationshintergrund bei verschiedensten Schwierigkeiten und Herausforderungen. Im gleichen Themenfeld gibt sie über das katholische Bildungswerk den Integrationskurs „Ankommen“, in dem sie neu angekommenen Menschen, aber auch Menschen, die sich noch nicht gut auskennen, das Leben und das Miteinander in Deutschland nahebringt.

    Vielfältige Themen

    In ihrem Stadtteil gibt es wohl kaum jemanden, der die hilfsbereite, warmherzige Frau nicht kennt. Seit zehn Jahren ist sie im Rahmen der Quartiersentwicklung „Soziale Stadt Neu-Tannnenbusch“ aktiv und engagiert sich in vielfältigen Projekten. Gleichzeitig hat sie die Selbsthilfegruppe „Flucht und Gewalt macht krank“ sowie das Internationale Frauen- und Familienforum gegründet, das Raum zum Austausch über Themen wie Gleichstellung, Religion, häusliche Gewalt, Gesundheit, Genitalverstümmelung, Trennung und Scheidung gibt. Seit 2015 ist Lul Autenrieb Inklusionsbotschafterin der „Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben Deutschland e.V.“ (ISL e.V.) und engagiert sich in der Gruppe „Frauen*Streik“ für Menschen- und Frauenrechte.

    Der Kampf geht weiter

    Fertig ist Lul Autenrieb mit ihrem Einsatz noch lange nicht. „Ich wünsche mir, dass auch die Schwächsten gehört werden und die Chance bekommen, sich zu wehren. Bis dahin werde ich weiterhin meine Möglichkeiten nutzen und als Sprachrohr für all diejenigen, die nicht sprechen können, besonders für die Rechte von Frauen und Kindern eintreten und kämpfen.“ Kraft dafür bekommt sie von ihrer Familie und besonders von ihrer kleinen Enkeltochter Mila, die ihrer Großmutter viel Freude bereitet. An die Vorurteile, die ihr im Laufe der Jahre als zwischenzeitlich alleinerziehenden Mutter im Rollstuhl entgegengeschleudert wurden, kann sich Lul Autenrieb lebhaft erinnern. „Natürlich war es eine harte Zeit. Aber ich habe allen und auch mir selbst gezeigt, dass ich die Kraft habe, diese Aufgabe zu meistern.“

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