Ungläubigkeit ist wohl die häufigste Reaktion, die Johannes Grasser von seinen Mitmenschen bekommt. Daran, dass sich oft auch unverhohlenes Unverständnis mit hineinmischt, hat sich der 25-Jährige längst gewöhnt. Mit der irritierten Frage "Warum studierst du denn ausgerechnet Sport?!" wird der Masterstudent oft konfrontiert. Für den Tetraspastiker ist die Antwort klar: "Sport bedeutet für mich ein großes Stück Freiheit." Seit zwei Semestern studiert Johannes Grasser an der Deutschen Sporthochschule Köln. Der Weg dahin war für den gebürtigen Bamberger, dessen Arme und Beine von Geburt an motorisch stark eingeschränkt sind, ein harter Kampf. "Mir war schon immer klar: Ich will etwas aus meinem Leben machen. Und wenn ich vorankommen will, muss ich etwas dafür tun!"
Täglicher Antrieb
Vorankommen ist für den 25-Jährigen nicht nur in sportlicher Hinsicht der tägliche Antrieb. "Geht nicht, gibt's nicht" lautet sein Credo, das ihn auch an schweren Tagen über Wasser hält. Die Motivation, Stück für Stück besser zu werden, ist für Johannes Grasser der Schlüssel zu seinem großen Ziel, eines Tages ohne Gehhilfen laufen zu können. "Wenn es klappt, ist das großartig. Aber wenn nicht, kann ich zumindest behaupten, dass ich alles dafür getan habe." Bis zu vier Stunden täglich trainiert der Sportstudent, um seinen Körper maximal zu fördern. Schwimmen, Radfahren und Klettern sind auch privat seine große Leidenschaft. Der Sport habe ihm immer schon das Gefühl gegeben, trotz seiner Bewegungseinschränkung einigermaßen normal am Leben teilhaben zu können. Den Begriff "Bewegungseinschränkung" nutzt Johannes Grasser oft, wenn er über sein schweres Handicap spricht. "Behinderung" hingegen ist ein Wort, das er ablehnt. "Eine Baustelle auf der Autobahn ist auch eine Behinderung, die macht mich langsam, die stört mich, die blockiert mich in meinen Plänen."
Kampfgeist und Optimismus
Sein Selbstbewusstsein, den Kampfgeist und Optimismus hat er seinen Eltern zu verdanken. "Sie haben mir vorgelebt, dass das Leben Spaß macht, aber dass man sich auch in die Gesellschaft reinkämpfen muss. Meine Eltern haben mich völlig normal erzogen und mich überall mit hingenommen." Wahrscheinlich sei er deutlich öfter auf die Nase gefallen als andere Kinder, sagt Grasser rückblickend. Aber genau das habe ihn stark gemacht und auf den steinigen Weg vorbereitet, der damals vor ihm lag. Als Johannes Grasser 1989 zu früh zur Welt kommt, wird die motorische Einschränkung schnell diagnostiziert. Von Anfang an setzten seine Eltern alles daran, ihren Sohn so effizient wie möglich zu fördern. Unzähligen Therapien im In- und Ausland und gezieltem Training hat er seine heutige Beweglichkeit zu verdanken, sagt der Sportstudent. Mit Unterstützung der örtlichen Grundschule und des Bamberger Gymnasiums konnte er einen regulären Bildungsweg einschlagen. Bereits vor dem Abitur begann der Kampf mit den Behörden für erleichternde Arbeitsbedingungen. Bis kurz vorher wusste der damals 20-Jährige nicht, ob er sein Abitur überhaupt würde schreiben können. "In Bayern bekamen eingeschränkte Schüler damals maximal 50 Prozent mehr Zeit. Das hat bei meiner langsamen Schreibgeschwindigkeit aber nur bis zur elften Klasse ausgereicht. Danach habe ich gemerkt, dass es immer schwieriger wurde", blickt er zurück.
Wegweisender Rat
Der hartnäckige Einsatz hat sich gelohnt: 2009 machte Johannes Grasser sein Abitur und bewarb sich für das Sportstudium an der TU München. In einer Zeit, in der es nahezu unmöglich war, mit einem so schweren Handicap Sport zu studieren, kam Johannes Grasser der Zufall zu Hilfe. Im Zuge der Umstellung vom Diplomstudiengang auf Bachelor und Master wurde das Eignungsfeststellungsverfahren entschärft und Johannes Grasser so der Zugang an die Uni ermöglicht. Die Idee, sich für ein Sportstudium zu bewerben, hat er einem engagierten Physiotherapeuten zu verdanken. Er gab seinem damaligen Patienten den Rat, einen Studiengang zu wählen, in den er sein aufwendiges Trainingspensum integrieren kann.
Niemals aufgeben
Mit der Erforschung von Bewegungsmechanismen und besonders effizienter Trainingsmethoden beschäftigt sich der 25-Jährige seit vielen Jahren. "Ich glaube, dass es ein großer Vorteil sein kann, aus einem anderen Blickwinkel auf Bewegung und sportliche Leistung zu schauen", sagt er. Ein Schlüsselerlebnis hat den damaligen Schüler dazu gebracht, sich intensiv mit dem Thema zu befassen und seinen Körper genau zu beobachten. 2006 wurde er ohne merkliche Erfolge nach einem wachstumsbedingten Rückschlag in einer Reha-Klinik behandelt und nach wochenlanger Therapie mit dem Rat entlassen: "Setzen Sie sich besser in den Rollstuhl und geben Sie das Laufen auf." Für Johannes Grasser war die Aufgabe seines großen Ziels keine Sekunde lang eine Option. Stattdessen schraubte er sein ohnehin schon straffes Trainingspensum weiter in die Höhe.
Interessante Entdeckung
Eine spezielle "Koordinationsdynamiktherapie", auf die er bereits 2004 nach einer Operation gestoßen ist, hat er zwei Jahre lang eigenständig weiterentwickelt. Bis zu fünf Stunden täglich arbeitete er nach der Reha gezielt an der Beweglichkeit seiner Arme und Beine. Die erste Trainingseinheit begann der damals 17-Jährige bereits um 4.30 Uhr vor der ersten Schulstunde. Dabei machte er die interessante Entdeckung, dass es viel effizienter ist, frühmorgens statt erst nachmittags mit dem Training zu starten, und begann, diese Erfahrung wissenschaftlich zu hinterfragen. In einem "Jugend forscht"-Projekt beschäftigte er sich explizit mit dieser Thematik und schuf so die Basis für seine spätere Bachelorarbeit. Seine Trainingsmethode setzt durch speziell koordinierte Bewegungsabläufe an der Optimierung des Zentralnervensystems an. Inzwischen hat Johannes Grasser bereits Anfragen von Sportgeräteherstellern, die ihn um Hilfe bei der effizienteren Gestaltung ihrer Produkte bitten.
Kampf mit Behörden
In seiner Masterarbeit möchte der Sportstudent seine Ergebnisse an den praktischen Leistungen von Athleten überprüfen. Für dieses spezielle Thema hat er bereits einen australischen Professor gewinnen können, der als weltweiter Experte auf diesem Gebiet gilt. Den Kontakt hat Johannes Grasser bei einem Auslandssemester geknüpft – für den Studenten eine sehr prägende Zeit, die seinen gesamten Erfahrungsschatz auf den Kopf stellte. Dass er überhaupt nach Australien gehen konnte, um das für eine wissenschaftliche Karriere nahezu unerlässliche Auslandssemester anzutreten, setzte wiederum einen langwierigen Papierkrieg voraus. "Die Behörden haben es mir von Anfang an sehr schwer gemacht, mein Studium durchzuführen", blickt der Masterstudent zurück. Sich über den Campus zu bewegen, ist nur möglich mit der Unterstützung seiner Helfer, die ihn zwischen seiner kleinen Studentenbude, den Seminarräumen, Physiotherapie- und Trainingsstunden ständig begleiten. Das Wort "Betreuer" kann Johannes Grasser ebenso wenig leiden wie den Begriff "Behinderter".
Endlose Fragen
Von Anfang an musste sich der Student jedes Semester aufs Neue durch endlose Fragenkataloge arbeiten, um sich die Finanzierung seiner Assistenten zu sichern. Im Bachelorstudium stellten die Behörden zunächst sogar die Bedingung, dass Grasser kein Semester dranhängen durfte. Die Finanzierung der Helfer, die ihn schließlich im fünften Semester nach Australien begleiteten, verweigerten die zuständigen Behörden. "Ich habe nur das beantragt, was mir in Deutschland auch zustand, und keinen Cent mehr", versichert Grasser und schüttelt den Kopf. Noch Jahre später ist das Verhalten der Behörden für Ihn völlig unverständlich. Sämtliche Kosten für sich und die Begleiter zahlte die Familie aus eigener Kasse. Erst Monate nach dem Auslandssemester erstattete der Freistaat Familie Grasser einen Teil der entstandenen Kosten. Aktuell führt er einen ständigen Kampf um den Grad seiner Behinderung. "Ich habe das Problem, dass die Behörden versuchen, mich von 100 auf 70 Prozent zu drücken – weil ich geistig in der Lage bin, zu studieren."
Neues Bewusstsein
Die Zeit in Australien hat sich für den ehrgeizigen Studenten nicht nur wegen Top-Noten und spannenden, zukunftsweisenden Inhalten gelohnt. "Dort ist mir erst bewusst geworden, wie engstirnig und unsozial in Deutschland mit behinderten Menschen umgegangen wird", sagt Johannes Grasser. Bei seinem ersten Tag an der australischen Uni sagte der Rektor, wie stolz und dankbar man über den Gaststudenten sei. Als prägnantes Beispiel für den unterschiedlichen Umgang erinnert er sich an seinen ersten Discobesuch in Australien: "Die Leute haben ganz normal mit mir getanzt und fanden es cool, dass ich dorthin gegangen bin. In Deutschland hingegen habe ich nach fünf Sekunden auf der Tanzfläche zehn Meter Platz um mich herum." Mit dem neuen Bewusstsein zurück in Deutschland kam die Sehnsucht nach der australischen Toleranz. Selbst in der Stadt Köln, wo er dank des Auslandssemesters den Masterstudienplatz an seiner Wunschhochschule bekommen hat, sei der Umgang mit eingeschränkten Menschen anders. "Egal an welcher deutschen Uni: Ich bin sozial nie so integriert, wie ich es gern wäre", sagt er. Wann immer er in der Stadt unterwegs sei, treffen ihn die unverhohlenen Blicke der Passanten. "Ich merke täglich, dass ich einfach nicht ins Bild passe." Die Tatsache, dass in Deutschland kaum jemand natürlich mit behinderten Menschen umgehe, liege jedoch ein Stück weit auch an den Betroffenen selbst, findet er. "Viele reagieren angespannt und unhöflich, wenn ihnen Hilfe angeboten wird." Trotz der vielen Hindernisse versucht Johannes Grasser, sein Leben so positiv wie möglich zu sehen. Von seinem Traum, nach dem Studium im Trainerteam eines Fußballvereins zu wirken, lässt er sich ebenso wenig abbringen, wie von dem Drang, immer Neues auszuprobieren. Wenn ihn trotzdem ab und zu Mutlosigkeit überkommt, ist es wieder der unbedingte Wille, voranzukommen, der ihn antreibt: "Manchmal denke ich: Wäre es nicht toll, wenn ich laufen könnte? Aber im nächsten Moment sage ich mir sofort: Stopp! Warum denkst du darüber nach, statt etwas dafür zu tun?", sagt Johannes Grasser sehr bestimmt. "Ich sehe Rückschläge nicht negativ, sondern als Chance, etwas zu ändern."