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"Bevor man etwas aufgibt, sollte man unbedingt alle Möglichkeiten nutzen, um sein Ziel zu erreichen. Sonst weiß man doch gar nicht, ob man es nicht doch geschafft hätte"

 

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Form der Behinderung:

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Motivation und Antrieb:

Katharina Kirch

1986

Merseburg

Kultur- und Medienpädagogin, Programmleiterin

Mukopolysaccharidose (MPS)

Filme schneiden, Malen, Basteln, Musik, Theater, Rollstuhltanz

Der Rückhalt ihrer Familie hat ihr Kraft gegeben, etwas aus ihrem Leben zu machen. "Sie haben mir immer den Mut und Optimismus zugesprochen, den ich brauchte, um weiterzumachen."

 

Porträtfoto von Katharina Kirch

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Den starken Glauben an sich selbst hat Katharina Kirch nie verloren. Ihre Träume und Wünsche aufzugeben, kam für die lebenslustige 28-Jährige auch in den dunkelsten Stunden ihrer Krankheit nie in Frage. "Bevor man etwas aufgibt, sollte man unbedingt alle Möglichkeiten nutzen, um sein Ziel zu erreichen", sagt sie. "Sonst weiß man doch gar nicht, ob man es nicht doch geschafft hätte."

Immer dabei. Obwohl sie schon früh gemerkt hat, dass sie anders ist, hat Katharina Kirch schon als Kind daran geglaubt, dass sie eigentlich alles schaffen kann. Sie hat Radfahren, Schwimmen und Rollschuhlaufen gelernt und ist bis heute bei fast allen Unternehmungen ihrer Freunde mit dabei. Seit ihrer Geburt leidet sie an der seltenen Stoffwechselkrankheit Mukopolysaccharidose, kurz MPS. Ihr Körper kann bestimmte Enzyme nicht produzieren, die für den Stoffwechsel einiger Bestandteile im Körper verantwortlich sind. Die Folgen sind Minderwuchs, eine Verdickung der Herzklappen, Hornhauttrübung der Augen mit anschließender Erblindung und Schwerhörigkeit, erhöhter Hirndruck, Atem- und Lungenprobleme sowie einer Schädigung der inneren Organe. Seit einer Notoperation im Jahr 2000 hat sie zudem einen Luftröhrenschnitt, der sich nicht mehr rückgängig machen lässt. Im Alter von vier Jahren diagnostizierten die ärzte den schwereren Verlauf von MPS Typ VI. Insgesamt 20 Operationen hat sie über die Jahre mitgemacht.

Rückhalt. Seit elf Jahren erhält sie das fehlende Enzym wöchentlich über eine fünfstündige Infusion im Krankenhaus. Erfahrungswerte über die Langzeitwirkung der Enzymersatztherapie bei Patienten ihres Alters liegen kaum vor, da die meisten Mukopolysaccharidosen bereits im Jugendalter zum Tod führen. An ihre Zukunft haben Katharina Kirch und ihre Familie trotz der niederschmetternden Prognosen immer geglaubt. Der Rückhalt ihrer Eltern und Großeltern hat ihr die entscheidende Kraft und Energie gegeben, etwas aus ihrem Leben zu machen, sagt die 28-Jährige heute. "Sie haben mir immer den Mut und Optimismus zugesprochen, den ich gebraucht habe, um weiterzumachen."

Große Ziele. Dass Katharina Kirch mit ihrer starken körperlichen Mehrfachbehinderung nie an einer Filmhochschule würde studieren können, war schon früh klar. Trotzdem hat sie alles dafür getan, um ihrem Traum so nah wie möglich zu kommen - mit Erfolg. Seit einem halben Jahr arbeitet sie in ihrem absoluten Traumjob: Beim Bürgerfernsehen "Offener Kanal Merseburg-Querfurt e.V." produziert sie als Projektleiterin ihre eigene Sendung "Behindert, na und?!". 15 Stunden in der Woche interviewt sie Menschen mit Handicap, moderiert Sendungen, dreht mit Unterstützung von Studenten und schneidet das Material zu spannenden Beiträgen zusammen. Den ersten Kontakt zum Bürgerfernsehen hat sie mit 17 Jahren während eines Schulpraktikums geknüpft. Das eigene Filmprojekt, das sie in dieser Zeit über sich und ihre Krankheit initiierte, wurde 2003 mit dem "Bürgermedienpreis" ausgezeichnet.

Tiefe Freundschaften. Die Möglichkeit zu diesem wegweisenden Praktikum ermöglichte ihr der Besuch der Freien Waldorfschule, auf die Katharina Kirch 2001 wechseln musste. Eine zunehmende Verschlechterung ihres körperlichen Zustands machte es ihr unmöglich, auf dem Gymnasium zu bleiben. Lange hat die gebürtige Merseburgerin mit der Entscheidung gehadert: "Die Jahre auf dem Gymnasium waren für mich die schönste Zeit meiner gesamten Schullaufbahn", sagt sie rückblickend. Ihre Eltern haben von Anfang an dafür gekämpft, dass ihre Tochter auf eine Regelschule gehen konnte. Auf dem Merseburger Gymnasium hat sie vier ihrer besten Freunde kennengelernt, die auch heute noch hinter ihr stehen. Die Jungs haben ihrer Mitschülerin geholfen, die Hürden des Alltags zu überwinden, als sie noch keine Assistentin an ihrer Seite hatte. "Meine Freunde haben mir ihre Notizen mit Blaupapier durchgepaust, mich die Treppe hoch- und runtergetragen und sich abwechselnd neben mich gesetzt, als niemand sonst neben mir sitzen wollte", erinnert sie sich. Die Mädchen auf dem Gymnasium waren zurückhaltender, von ihnen hat sich die damalige Schülerin oft ausgeschlossen gefühlt.

Spannende Einblicke. Auf der Waldorfschule wurde Katharina Kirch auch von ihren Mitschülerinnen offener aufgenommen. Mit Hilfe ihrer Begleiterin, einer jungen Frau, die ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) leistete, konnte sie ihre Kreativität ausleben. Nach ihrem erweiterten Realschulabschluss als Klassenbeste wechselte sie 2006 auf die Technische Fachoberschule und kehrte für ein erneutes Praktikum zu ihrem heutigen Arbeitgeber zurück. Beim Offenen Kanal erhielt sie spannende Einblicke in die Entstehung von Sendungen, entwarf Konzepte, lernte Kameraführung sowie Filme zu digitalisieren und zu schneiden. Das Praktikum legte den Grundstein für die Sendereihe "Behindert, na und ?!", die bis heute im Bürgerfernsehen des Offenen Kanals zu sehen ist. Auch ihr Filmprojekt "RolliRallye – Rollifahrer auf Probe", das sie im Rahmen ihres Studiums der Kultur- und Medienpädagogik selbst entwickelt hat, wurde dort ausgestrahlt. Junge Menschen ohne Handicap sind dafür einen Tag lang im Rollstuhl durch Merseburg gefahren und haben an verschiedenen Stationen Herausforderungen bewältigt. Auf diese Weise konnten sie erleben, was es bedeutet, auf seine Beine verzichten zu müssen.

Wegweisendes Projekt. Um das Studium für die angehende Studentin möglich zu machen, organisierte die Hochschule Merseburg einen speziellen Laptop, eine Lesekamera und Zoomtext für den Computer. Diese Technik half Katharina Kirch dabei, die Vorlesungen und Seminare, die ihre Professoren mit interaktiven Präsentationen hielten, zu lesen. Eine von der Hochschule gestellte Studienassistentin half beim Lesen von Fachliteratur und dem Ausarbeiten von Projekten oder Hausarbeiten. Im Rahmen ihres Praxissemesters entwickelte die engagierte Studentin ein weiteres wegweisendes Projekt, das nicht nur beruflich eine sehr prägende Erfahrung war. Fünf Monate lang arbeitete Katharina Kirch im Bundestagsbüro von Silvia Schmidt, der damaligen Abgeordneten und Behindertenbeauftragten der SPD-Fraktion in Berlin. Dafür wagte sie einen wichtigen Schritt, der viel Mut kostete. Bereut hat sie den temporären Umzug nach Berlin nie, auch wenn die erste Zeit ohne Mutter und Vater - bis heute ihre wichtigsten Ansprechpartner - nicht leicht war. Liebevolle Unterstützung fand Katharina Kirch bei ihrer begleitenden FSJlerin Gina, die schnell zu einer Freundin wurde. Die 28-Jährige denkt gern an die gemeinsame Zeit zurück: "Wir hatten immer feste Rituale. Jeden Nachmittag haben wir uns zum Beispiel in unserem Lieblingscafé ein Stück Käsekuchen geteilt", erinnert sie sich und lacht. Ein weiteres wichtiges Ritual war das Vorlesen. "Gina kann das ganz wunderbar", schwärmt Katharina Kirch. "Wir haben auf diese Weise in den fünf Monaten ein Dutzend Bücher gelesen."

Offenheit und Engagement. Fachlich beschäftigte sich die Bachelorstudentin mit einem Thema, das ihr selbst sehr am Herzen liegt. Für das Sozialprojekt "Wie barrierefrei ist denn eigentlich der Deutsche Bundestag?" prüfte sie jeden Winkel des Reichstagsgebäudes auf Hürden und Hindernisse - nicht nur für Menschen mit Bewegungseinschränkung, sondern auch für Seh- und Hörbehinderte. Die Ergebnisse ihrer Ermittlungen legte sie nicht nur dem Bundestagspräsidenten Norbert Lammert vor. Mit Vertretern der einzelnen Parteien wie Jürgen Trittin oder Gregor Gysi diskutierte sie über das brennende Thema - auch hier vor laufender Kamera, denn ein großes ehrenamtliches Engagement des Offenen Kanals Merseburg-Querfurt e.V. machte einen weiteren Dokumentarfilm möglich. "Herr Lammert hat mir im Nachhinein einen sehr netten Brief geschrieben, in dem er mir für meine Offenheit und die hilfreichen Informationen gedankt hat", sagt sie. Von ihrer Offenheit und den gesammelten Erfahrungswerten profitiert auch das Ministerium für Arbeit und Soziales des Landes Sachsen-Anhalt. Alle drei Monate reist Katharina Kirch nach Magdeburg zum Runden Tisch für Menschen mit Behinderungen der Arbeitsgruppe Inklusion.

Große Unterstützung. Im Sommersemester 2012 hat die 28-Jährige mit Unterstützung ihrer Studienassistenz und in Kooperation mit dem Offenen Kanal ihre Bachelorarbeit angefertigt und drei Semester lang im Masterstudiengang "Angewandte Medien- und Kulturwissenschaft" studiert, bevor sie sich zugunsten ihres Traumjobs exmatrikulieren ließ. Das alles wäre nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung, die sie bei allen Stationen erfahren hat, sagt Katharina Kirch rückblickend. "Ich bin sehr oft auf offene und engagierte Menschen gestoßen, und dafür bin ich sehr dankbar." Neben ihren Schul- und Hochschulrektoren und dem Team des Offenen Kanals, das ihr immer Mut zugesprochen hat, waren auch ihre Assistentinnen immer eine große Stütze. Insgesamt zwölf FSJlerinnen haben sie bis heute begleitet, mit den meisten verbindet sie immer noch ein freundschaftliches Verhältnis.

Niemals aufgeben. Enge Freunde und ihre Familie sind es auch, die Katharina Kirch in mutlosen Momenten Kraft geben. Diese Momente kommen meist mit den starken körperlichen Schmerzen, die ihr besonders in den letzten Monaten viele Sorgen um die Zukunft bereiten. Die Ursache dafür sind Ablagerungen an den Nerven, die dafür sorgen, dass Katharina Kirch an schlimmen Tagen ohne starke Schmerzmittel nicht den Hauch einer körperlichen Berührung ertragen kann. "Ich habe oft große Angst, was noch alles auf mich zukommt", sagt die junge Frau, die zunehmend auf fremde Hilfe angewiesen ist. Nach vielen Lungenentzündungen muss sie seit knapp zwei Jahren nachts beatmet und täglich von einer Intensivpflegekraft begleitet werden. Ein wichtiger Anker sind für Katharina Kirch die ärzte und Schwestern der Universitaetsklinik in Mainz, wo sie seit 24 Jahren regelmäßig behandelt wird. Zu einigen hat sich über die Zeit eine echte Freundschaft entwickelt. Mit ihnen kann sie über ihre Sorgen und Probleme sprechen, nicht nur körperlicher Art. Sich anderen zu öffnen und sich auch in schweren Zeiten nicht zu isolieren, ist ein wichtiger Rat, den Katharina Kirch anderen Betroffenen mit auf den Weg geben möchte. "Egal, was passiert: Es lohnt sich, an sich zu glauben und für seine Träume zu kämpfen!"

 

Die Lebensspur von Katharina Kirch als PDF finden Sie hier.

 

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